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ERKLÄRUNGEN ZUM „BUH-PHÄNOMEN“. Leitfaden zur richtigen Einordnung von Buh-Rufen

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IMMER WIEDER HÖREN WIR VON BUH-RUFEN. ORDNEN WIR DIESE AUCH RICHTIG EIN?

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Erklärungen zum Buh-Phänomen (von Klaus Billand)

Vorgestern sagte ich an dieser Stelle, dass ich einen weltbekannten Akustiker auf das Thema der meines Erachtens völlig überschätzten Buh-Rufe angesichts der Diskussion um den Applaus nach der „Poppea“-Premiere bei den Salzburger Festspielen ansprechen werde. Es handelt sich dabei um Prof. Dr. Karlheinz Müller, der unter anderem bei den jeweiligen Umbauten für die nun exzellente Akustik der Felsenreitschule und der Hauses für Mozart verantwortlich zeichnete. Gestern Abend nach dem „Prozess“ habe ich ihn nun getroffen.

Seine wissenschaftlichen Erklärungen sind ebenso interessant wie einleuchtend: Es dreht sich hier um das Phänomen der sog. Formanten. Damit bezeichnet man in der Akustik und Phonetik die Konzentration akustischer Energie in einem fixen (unveränderlichen) Frequenzbereich (Hz), unabhängig von der Frequenz des erzeugten Grundtons (Wikipedia). Die Formanten der Buhrufe liegen im Tieftonbereich der menschlichen Stimme und dominieren deshalb die Beifallskundgebungen durch Applaus überproportional im Gehör, denn der Applaus liegt mehr im Hochtonbereich. Auch die Bravo-Rufe liegen weit höher. Laut Prof. Müller ergibt sich dadurch zwischen Bravoruf und Buhruf eine Relation von etwa 10:1 und – es klingt nahezu unglaublich – beim Klatscher zum Buhrufer eine Relation von gar etwa 100:1. Die akustische Neutralisierung eines Buhrufs bedarf also etwa 100 Klatschern, womit sofort klar ist, wie relativ (unerheblich) einige Buhrufe für eine realistische Publikumsbeurteilung sind. In einem Opernhaus von 1.500 Plätzen bedarf es also 15 Buhrufen, um die „restlichen“ 1.485 Klatscher, die die Aufführung offenbar für gut befinden, zu kompensieren. Dabei müssten diese 1.485 aber wirklich alle klatschen. Das tun aber nicht alle, obwohl ihnen das Stück gefiel – sie sind einfach nur ruhig (und im besten Falle so bewegt, dass sie gar nicht klatschen können…). Die Relation zu Ungunsten der Klatscher steigt signifikant weiter an, wenn die Buhrufe in einen Moment des Ablassens des ersten oder eines weiteren Beifallssturms, also in einen abnehmenden Klatschpegel, hinein buhen, was immer wieder zu erleben ist. Dann können sich die beiden Relationen enorm zu Lasten des Beifalls steigern.

Es wäre also gut, dass Rezensenten, die Missfallenskundgebungen des Publikums in Form von Buhrufen in ihrer tatsächlichen Bedeutung würdigen wollen, sich dieses Umstands bewusst sind.

Ein sogenanntes „Matchen“ kann in der Tat zustande kommen, wobei dann aber die Anzahl der Buhrufer so groß sein muss, dass sie die Gesamtzahl der Klatscher tatsächlich akustisch neutralisiert bzw. übertrifft und diese daraufhin noch mehr klatschen. Das konnte ich nur ganz selten beobachten. Eigentlich kann ich mich nur an den Fall Castorf nach der „Ring“-Premiere in Bayreuth 2013 erinnern. Erst dann könnte man m.E. von einer signifikanten oder gar weitgehenden Ablehnung der erlebten künstlerischen Leistung sprechen.

Klaus Billand aus Salzburg


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